Zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert, als im Raum Como und Lugano Kämpfe zwischen Welfen und Gibellinen wüteten, die einen Anhänger des Papstes, die anderen des Kaisers, stellten sich 1412 Carona, Ciona, Morcote und Vico Morcote auf die Seite der ersteren. Herzog Filippo Maria Visconti (1392-1447) anerkannte ihre Loyalität und gewährte ihnen die Absonderung von Lugano und bedeutende Privilegien. Diese so genannten privilegierten Gemeinden des Sottoceneri erhielten grössere Befugnisse bei der Wahl der lokalen Richter, Abgabenbefreiungen, Steuererlasse, Zollprivilegien und andere Erleichterungen. Es sei daran erinnert, dass Vico Morcote lange Zeit, bis 1582/83 auf kirchlicher und bis 1588 auf politischer Ebene die Geschicke von Morcote teilte und dass die beiden eine Dorfgenossenschaft bildeten.
Diese Urkunde vom 8. Dezember 1412 bezeugt, dass Filippo Maria Visconti, Herzog von Mailand, die Absonderung der Gemeinden Morcote und Vico Morcote von der Stadt und Talschaft Lugano und der Stadt Como guthiess und die Gemeinden zur Zahlung eines jährlichen Zensus von hundert Goldgulden an die herzogliche Kammer verpflichtete. Diese Abgabe wurde 1450 durch die Adelsfamilie Sanseverino verdoppelt und zeugt von einer nicht unerheblichen wirtschaftlich-demografischen Stärke der beiden Gemeinden.
Als die Sforza 1450 die Visconti an der Spitze des Herzogtums Mailand ablösten, wurden die Privilegien erneut bestätigt, auch wenn die abgesonderten Gemeinden ständig darum kämpfen mussten, ihren sozialen Status zu erhalten. Zwistigkeiten mit den lokalen Machthabern, insbesondere mit dem Hauptmann von Lugano, zwangen sie, den sie vertretenden Organen mehr Gewicht zu verleihen, so dass sich diese einsetzen konnten, um die erworbenen Privilegien durchzusetzen. Die Streitigkeiten wurden immer heftiger, vor allem bevor das Sottoceneri 1512 dem Bund der zwölf eidgenössischen Orte beitrat. Dieser bestätigte jedoch die Privilegien, sobald sich die ennetbirgischen Vogteien konstituiert hatten, und sie blieben ununterbrochen bestehen, bis der Kantons Tessin 1798 der Helvetischen Republik angegliedert wurde. Diese Anerkennung ist von grossem Interesse und symbolischer Bedeutung, denn obwohl die Machthaber wechselten, blieben die Privilegien nicht nur erhalten, sondern wurden erneut bestätigt, was den Grad der Autonomie und Macht unterstreicht, den diese privilegierten Gemeinden erworben hatten. Sie wurden von ihren eigenen Behörden verwaltet, übten die niedrige Zivil- und Strafgerichtsbarkeit aus, leisteten ihre Abgaben direkt an den Landvogt und unterstanden der Gemeinschaft nur in Bezug auf das Gesundheitswesen, den Wert des Geldes, das Militärwesen und die höchsten Grade der Gerichtsbarkeit. Im Jahr 1591, anlässlich des Pastoralbesuchs von Bischof Feliciano Ninguarda aus Como, schrieb der aus Castel Merano in Novara stammende Pfarrer Bonaventura Barbavara: «Die Gemeinde [Vico Morcote] ist klein und umfasst nicht mehr als 33 Haushalte, die meisten Männer arbeiten ausserhalb des Dorfes, so dass im Dorf nur rund 15 oder 20 Männer und 53 Frauen leben, insgesamt werden es, wenn man die Anwesenden und die Abwesenden rechnet, 120 Seelen sein. Das Dorf Murcò und das von Vico Murcò haben getrennt die gleichen Privilegien, das heisst, dass jedes Dorf alle XII Monate seinen eigenen Podestà wählt, der immer für ein Jahr bestätigt wird und der die vollständige Befugnis im Zivilen hat, während die 5 Kommissäre, die am Tag des heiligen Johannes kommen, die Ämter besetzen, der Podestà hat auch die Befugnis in Strafsachen, ausser bei Todesstrafe, Gefängnis und Folter; und unser Dorf und ebenso das von Murcò ist verpflichtet, jedes Jahr am Tag des heiligen Johannes hundert Gulden im Wert von je 32 Schilling an unsere Herren Kommissäre zu zahlen» .
Vor diesem politischen und sozialen Hintergrund wurde die so genannte Sala della Giustizia (Gerichtssaal) ins ehemalige Rathaus eingefügt. Hier konnten die Einwohner von Vico Morcote, gemäss den von den Mailänder Herzögen erstmals gewährten und später von den Eidgenossen bestätigten Privilegien, die Gerichtsbarkeit weitgehend autonom ausüben, das heisst in erster Instanz weniger schwerwiegende zivil- und strafrechtliche Prozesse führen «usque ad sanguinem exclusive». Wie bereits erwähnt, war Vico Morcote ab 1588 politisch von Morcote unabhängig, so dass man davon ausgehen kann, dass Vico Morcote seit diesem Zeitpunkt über einen eigenen Raum zur Rechtsprechung verfügte. In Ermangelung von Dokumenten ist es schwierig, mit Sicherheit festzustellen, ob es sich um den heutigen Saal handelt, nicht zuletzt, weil dessen Dekoration, wie wir sehen werden, typisch für das 18. Jahrhundert ist. Andererseits befindet sich dieser Raum im Dorfkern, der aus Wohnhäusern besteht, deren Mauern mittelalterlichen Ursprungs sind. Es scheint deshalb plausibel, dass dieser Raum älter ist als es sein heutiges Aussehen vermuten lässt.
Man betritt den fast quadratischen Bau durch eine Tür, die auf der Aussenseite in eine innere Gasse des kleinen Dorfes mündet, während sie auf der Innenseite in einen Flur und von dort in den Gerichtssaal führt. Der Raum hat eine Holzdecke, an deren Rand ein Freskenfries mit den Wappen der 12 Orte verläuft, die die Vogtei Lugano regierten. Auf der südlichen Wand befinden sich die Wappen von Schaffhausen, Freiburg, Uri, Luzern, Basel und als letztes das rot-weisse von Solothurn, von dem nur ein Teil zu sehen ist; auf der gegenüberliegenden Wand sieht man die Wappen von Zug, Schwyz, Zürich, Bern, Unterwalden, Glarus.
Gerichtssaal, Freskenfries an der Südwand. Gerichtssaal, Freskenfries an der Nordwand.
Zwischen diesen beiden Wänden sind die Gerechtigkeit und die Jungfrau Maria dargestellt, in deren Mitte ein Schild, auf dem ein doppelköpfiger Adler, das höchste Symbol der Macht, abgebildet ist. Der Adler wird von einer Tiara überragt, die an eine lokale Überlieferung anknüpft, wonach Papst Aniceto aus Vico Morcote stammte.
Gerichtssaal, zentrale Wand mit dem doppelköpfigen Adler in der Mitte und der Gerechtigkeit sowie der Jungfrau Maria an den Seiten.
Gerichtssaal, Schild mit dem zweiköpfigen Adler.
Rechts vom Doppeladler befindet sich die Allegorie der Gerechtigkeit, die die weltliche Macht darstellt. Diese wurde von einer identischen Darstellung an der Fassade des zwischen 1591 und 1592 errichteten Rathauses (Loggia) von Carona übernommen, das aussen mit den Wappen der eidgenössischen Orte geschmückt ist und in dem weniger schwerwiegende Zivil- und Strafprozesse geführt wurden.
Gerichtssaal, Allegorie der Gerechtigkeit
Eine sitzende weibliche Figur in weissem Gewand und Mantel, der Farbe der Reinheit, trägt eine Krone auf dem Kopf. Ihre Haltung, die einen unsichtbaren Thron erahnen lässt, und die Krone sind nicht nur allgemein übliche Zeichen für die Ehre, die man ihr entgegenbringt, sondern weisen auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Souveränität hin. Die gesenkten Augenlider, die in diesem Fall die verbundenen Augen ersetzen, erinnern uns an ihre Unparteilichkeit: «sie schaut niemandem ins Gesicht». In der einen Hand hält sie eine Waage, in der anderen ein Schwert, die herkömmlichen Symbole der Gerechtigkeit. Die Waage deutet auf die Besonnenheit, Ausgewogenheit und Unparteilichkeit hin, die die Gerechtigkeit bewahren oder wiederherstellen soll. Andererseits verweist das nach oben, also zu Gott, gerichtete Schwert auf die Stärke und die Macht, die die Gerechtigkeit haben muss, um dafür zu sorgen, dass die bestehenden Regeln durchgesetzt und respektiert werden. Am Fuss der Allegorie liest man zwei lateinische Begriffe, die ihre Rolle zusammenfassen: "IN IUSTITIA ET AEQUITATE".
Gerichtssaal, Die Jungfrau Maria
Links vom doppelköpfigen Adler wird die geistliche Macht durch die Jungfrau Maria angedeutet. Sie befindet sich etwas weiter unten und ist somit der Gerechtigkeit, dem Symbol der weltlichen Macht, untergeordnet, als wolle damit der überwiegend profane Charakter des Saals unterstrichen werden. Die Halbfigur der Madonna steht allein und isoliert vor einem neutralen Hintergrund, eingehüllt in einen weiten blauen Mantel mit reichem, aufgebauschtem, aber gleichzeitig auch kantigem Faltenwurf, der fast wie eine Skulptur wirkt und das darunter liegende orangefarbene Gewand verdeckt. Das leicht nach rechts geneigte Gesicht wird von blondem Haar mit Mittelscheitel umrahmt, der gesenkte Blick ist den Betrachtern zugewandt, während die Hände den weiten Mantel auf Brusthöhe festhalten. Für die Nähe dieser Figur zum künstlerischen Schaffen des berühmten Malers Giuseppe Antonio Petrini (1677-vor 1759) aus Carona sprechen neben dem formalen und stilistischen Charakter auch ein kürzlich auf dem Tessiner Antiquitätenmarkt aufgetauchtes Werk mit demselben Sujet und einer sehr ähnlichen Komposition, die sich auch in einem analogen Gemälde in der Pinacoteca Cantonale Giovanni Züst in Rancate wiederfindet. Die Neigung des Gesichts der Jungfrau Maria im Gerichtssaal in Vico Morcote weist auch grosse Ähnlichkeiten mit der Rosenkranzmadonna mit Kind und frommer Frau auf dem Altarbild des Oratorio del Rosario in Delebio in Valtellina auf, das Petrini vor 1706 malte. Aufgrund des Erhaltungszustands des Freskos und der Eingriffe, denen es im Zuge der verschiedenen Restaurierungen ausgesetzt war, lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um ein Originalwerk des Meisters aus Carona handelt oder vielmehr um eine Nachahmung durch einen der anonymen Mitarbeiter, mit denen er sich, wie wir wissen, zu umgeben pflegte. Hingegen ist La Giustizia (die Gerechtigkeit) mit ziemlicher Sicherheit der Werkstatt Petrinis zuzuordnen, auch weil die Figur, die erheblich überarbeitet und retuschiert wurde, stilistisch und formal unbeholfener und schwächer wirkt.